Heute möchte ich Dir von einer ganz anderen Form von Erntedankfest erzählen. Lass uns einen kleinen Abstecher zu Joya machen, die etwas ganz Besonderes vorbereitet hat.
An der Türe empfängt mich – wie könnte es auch anders sein – ein gruselig geschnitzter Kürbis. Halloween lässt grüßen. Und mir läuft das Wasser schon im Mund zusammen, denn Joya hat mit Sicherheit aus dem Innenleben des Kürbis ihre legendäre Kürbis-Quiche gemacht.
Über dem Hauseingang hängt passend im selben knalligem Orange wie das Kürbis-Monster ein kleines Holzschild mit der Aufschrift:
Wir ernten, was wir säen…
Hallo? Was ist denn bei Joya los? Meinte sie doch in unserem letzten Telefonat: „Natürlich feiern wir Erntedank! Für dieses Jahr habe ich mir etwas ganz anderes einfallen lassen!“
Gespannt klingle ich an Joya’s Türe. Ihr wärmendes Lachen umarmt mich – wegen Distanz und Maske – einfach mitten im Herz.
Willkommen zum Erntedankfest mit kleinen Schönheitsfehlern!
Allein dieser Titel ist schon eine Herausforderung für Joya, denke ich mir. Immerhin trägt Joya den Spitznamen „Mrs. Perfekt“.
„Wie gut, dass Du schon da bist. Es gibt noch eine Menge vorzubereiten!“ ruft Joya, hakt sich bei mir unter und tanzt mit mir in die Küche. Mein Herz tanzt auch. Ich freue mich auf den Abend.
Joyas Küche gleicht einem Miniatur-Wochenmarkt. Sämtliche Obst- und Gemüsesorten stehen in Papiertüten – säuberlich sortiert – auf dem Küchentisch. In der Mitte der Küche nimmt sich eine breite Holztheke ihren Platz. Die Theke ist das Lieblingsstück von Joya!
Hier stehlen normalerweise ihre schon berühmten kalten Buffetts jedem Chefkoch die Show. Heute will sie mich und ihre Freundinnen (genannt DIE MÄDELS) überraschen.
„Zuerst müssen wir alle Zutaten waschen!“ ruft Joya und hängt mir ohne Vorwarnung eine Schürze über den Kopf. Ehe ich mich versehe, hat sie die Bänder schon hinten auf meinem Rücken verknotet.
„Und ich muss wieder alle Zutaten hochkompliziert arrangieren!“ antworte ich gespielt genervt, weil ich genau weiß, dass sich Joya DAS niemals aus der Hand nehmen lässt. Dekoration ist ihr Spezialgebiet.
„Weit gefehlt“ antwortet Joya. „Heute wird nichts, aber auch gar nichts arrangiert. Du wirst Dich wundern!“
Mir fällt der Begriff Schönheitsfehler wieder ein. Was hat Joya vor? Es klingelt an der Türe und das begeisterte Eintreffen ihrer Mädels reißt mich aus meinen Fragezeichen-Gedanken.
Schönheitsfehler oder eine Frage der Perspektive
Nach dem ersten Begrüßungs-Drink bittet Joya offiziell an den Küchentisch. „Na was sagt Ihr?“ grinst sie schelmisch und schaut sich theatralisch suchend auf dem leeren Küchentisch um. Alle folgen ihrem Blick. Noch nie war der Küchentisch bei Joya nicht eingedeckt.
Ich finde als erste die Sprache wieder: „Der Schönheitsfehler ist, dass Dir die Quiche verbrannt ist und es kein Essen gibt!“
Die Mädels lachen… allerdings etwas gequält. Die Vorstellung, dass es tatsächlich keine Quiche geben soll, ist nicht wirklich zum Lachen.
„Das ist mal wieder sooo typisch!“ mahnt Joya augenzwinkernd. „Immer zuerst die Aufmerksamkeit auf die Fehler lenken!“
Joya erhebt sich von ihrem Stuhl und geht hinter die Theke. Etwas nervös schiebt sie ein Holzbrett um 0,2 mm zurecht (typisch Mrs. Perfekt) und sagt: „Wir ernten, was wir säen.“
„Dies gilt nicht nur für Weizen oder Gemüse! Wir ernten auch, was wir sehen!“ Joya betont übertrieben deutlich die beiden e im Wort sehen.
„Überall, worauf wir schauen, ist auch unsere Aufmerksamkeit! Wenn Ihr auf die Schönheitsfehler achtet, werdet Ihr genau diese entdecken. Geht Euer Blick auf die wahre Ernte, werdet Ihr am gedeckten Tisch sitzen!“
Das Erntedank-Mandala
Es wird mucksmäuschenstill als Joya ein paar Orangen hinter der Theke hervorzaubert und sie liebevoll in einem Kreis auslegt.
Dann sortiert sie frische Pfirsiche um den Orangen.
Um die Pfirsiche herum drapiert sie kunstvoll je einen Kreis aufrecht stehender Birnen und kugelrunde knallrote Äpfeln. Ganz außen herum legt sie sorgfältig ein paar dunkle Weintrauben.
Den leeren Platz zwischen den Früchten füllt sie mit Kichererbsen und umrundet das fruchtige Stillleben mit einem harmonischen Rand aus Nüssen und Kastanien.
Joya zaubert weiter. Goldgelbe Maiskolben und leuchtend orangefarbige Karotten bilden einen leuchtenden Stern. Auf jeder einzelnen Spitze platziert Joya noch eine schneeweiße Knoblauch-Knolle. Die Zwischenabstände der Sternspitzen werden mit strahlenden Sonnenblumen verbunden und bilden einen formvollendeten Kreis.
Die Mädels und ich verfolgen gespannt den Aufbau dieses Erntedank-Mandalas, das in seiner Natürlichkeit und Ganzheit einfach nur bezaubernd ist. Wir klatschen Beifall, aber nicht wirklich so tosend, wie Du das jetzt vielleicht erwartet hätte, sondern eher nachdenklich und etwas verzagt.
Joya lächelt uns milde an: „Ihr seid doch meine Allerallerbesten!“ sagt sie und wischt sich unauffällig eine Träne aus dem Auge.
Perspektivwechsel
„Mein Erntedankfest ist heute unserem kritischen Blick gewidmet.“
Wir schauen uns fragend an. Was hat Erntedank mit unserem kritischen Blick zu tun? Kennst Du diesen Blick auch, diesen kritischen Röntgenblick, der gleichzeitig als Lupe fungiert und jeden kleinsten scheinbaren Makel entdeckt?
Konzentriert sich Dein Blick auch auf die einzelnen Schönheitsfehler oder kannst Du das große Ganze erfassen, das letztendlich immer die Vollkommenheit zeigt?
Joya greift zu einer Orange. „Schaut, wie schön sie ist. Prall und saftig. Powervoll und gesund. Aber habt Ihr die Orangenhaut entdeckt? Iiih! Diese Dellen! Wie in meinen Oberschenkeln!“
Wir ahnen schon worauf Joya hinaus will.
Joya‘s Hände streicheln liebevoll den Pfirsich.
„Wir sind wie die Pfirsiche. Wir versprühen unseren köstlichen Duft, und träumen von einer makellosen zarten Haut. Wir werden – genau wie diese Pfirsiche – für unser Schönheitsideal zart, rosig und faltenlos – in Chemie gepackt. Wir mäkeln an unseren Falten herum, statt der Hauptaufgabe unserer Haut zu danken: Sie gibt uns Schutz, reguliert die Temperatur, entgiftet, hütet unsere Organe und so vieles mehr und getreu dem Motto: Wer will einen runzligen Pfirsich!“
Joya streichelt mir liebevoll über die Wangen. Sie legt uns eine Birne und einen Apfel in unsere Hände.
„Seht ihr diese unvergleichbaren Formen? Diese Einzelstücke. Keine Birne und kein Apfel gleicht dem anderen. Jeder hat seine ganz eigene Figur. Und was tun wir? Wir verurteilen mal die Birnen- mal die Apfelfigur. Wir pressen uns in irgendwelche vorgegebenen Schönheits-Raster, statt uns unserer edlen Reife bewusst zu sein!“
„Wofür stehen die Weintrauben?“ flüstere ich ganz leise, wohl ahnend, was sie bedeuten könnten. Joya antwortet:
„Für mich sind das Symbol für unser Weinen. Unser Weinen vor lauter Freude und Glück, aber auch vor Trauer und Einsamkeit. Die Trauben stehen für unsere Gefühle. Aber wie oft lehnen wir unsere Gefühle ab? Sollten wir nicht unendlich dankbar sein, überhaupt so viel fühlen zu können?“
„Wir sind aber auch die Kichererbsen!“ Typisch Joya! Sie lacht fröhlich in das betretene Schweigen hinein.
„Lasst uns viel öfter Kichererbsen sein und mit Heiterkeit, Fröhlichkeit und gute Laune in die dunklen Lebensecken kullern.“
Sie faltet die Hände über der Brust und spricht mit warmer Stimme: „Ich danke für mein Lachen!“
Was für ein großartiges Erntedankfest! Gespannt warten wir auf die nächsten Erklärungen, als Joya ein paar Nüsse aus einer Schale knackt.
„Die hier, die stehen für meine Zähne!“ ruft Joya lachend. „Ich danke dafür, dass ich mich so oft durchgebissen habe und so manch‘ harte Nuss geknackt habe…“ Sie strahlt mich an. Dann verteilt sie ein paar Nüsse und jede von uns erinnert sich an ihre eigenen geknackten Lebensaufgaben.
„Aber wofür stehen die Maiskolben und der Knoblauch, Joya?“ fragen wir alle fast wie aus einem Munde. Joya ist ganz in ihrem Element. Ihre Augen funkeln.
„Habt ihr schon jemals einen Maiskolben genauer betrachtet? Wie ein Samenkern perfekt neben dem anderen sitzt? Kein Wunder wird der Mais als heilige Pflanze verehrt. Genießbar wird er erst im Herbst. Wir hingegen sträuben uns gegen den Herbst des Lebens, wir wollen immer jung sein, knackig sein. Wie ein Maiskolben eben. Ich danke heute dem Maiskolben und wertschätze mein Alter. Denn es ist jede noch so kleine einzelne Zelle, die sich perfekt zu einem Ganzen verbindet.“
Wir staunen. Diese völlig neue Betrachtungsweise beeindruckt uns sichtlich.
Welche Erntedank-Botschaft würdest Du bei den Kastanien herauslesen? Harte Schale, weicher Kern? Stachelig und widerborstig?
„Falsche Richtung!“ lacht Joya und piekt sich in den Finger. „Das Leben ist manchmal furchtbar stachelig. Auch wir können extrem stachelig sein. Aber wenn wir uns immer und immer wieder an den Kern in uns erinnern, und es uns gelingt, unsere Stacheln zu entfernen, dann fühlt sich das Leben weich und warm und glänzend an!“
Dann beginnt sie geschickt mit zwei Knoblauch-Knollen zu jonglieren und schält anschließend ganz behutsam die hauchdünnen Schalen ab. „Sie erinnern mich daran, dass auch mein Lebenshauch vergänglich ist. Deshalb danke ich all den Situationen, die mir so richtig gestunken haben, denn sie waren letztendlich auch die Würze für eine Veränderung.“
Wir prusten vor Lachen. Und ich denke mir: „Perfekt getaktet!“ denn plötzlich zieht ein köstlicher Duft durch die Küche. Ob dies wohl der Duft der berühmten Quiche ist?
Joya strahlt mit den Sonnenblumen um die Wette. „Schaut genau hin, Ihr Lieben. Worauf achtet Ihr? Auf die goldgelben Blütenblätter oder die dunklen Samen in der Mitte? Ich für mich will mich nicht mehr länger ständig kritisch beäugen. Ich will wachsen, wie die Sonnenblume und meinen inneren Kern hegen und pflegen. Ich will meine Macken und Ecken und Rundungen lieben und ehren.“
Ich atme tief durch als Joya mich mit leiser Stimme fragt: „Was wäre das eine ohne das andere?“
„Nichts Vollkommenes!“ antworte ich ihr berührt, weiß ich doch um all ihre Kämpfe. Wir danken Joya für dieses herrliche Erntedankfest und denken voller Vorfreude auf das leckere Essen den Tisch.
WEIL DU WICHTIG BIST!
Herzlichst
Silke