Meine Mutter und ihr unglaublicher Egoismus waren schuld an meinen Problemen!
Gerade hatte ich in der x-ten Therapiesitzung einen wahren Erkenntnis-Quantensprung gemacht: Meine Mutter war gar nicht so toll, wie ich immer gedacht hatte. Und schon gar nicht war sie das aufopfernde Modell, das eine ordentliche Mutter zu sein hat.
Nein, ganz im Gegenteil: Sie hat immer zuerst darauf geachtet, dass es ihr gut ging.
Boah, war ich wütend!
Den geplanten Besuch bei meiner Mutter musste ich an diesem Tag absagen. Denn ich hätte sicher einen Streit angezettelt. Ihr Vorwürfe gemacht. Ihr an den Kopf geworfen, dass ich niemals wirklich wichtig für sie gewesen bin.
Dieser Auseinandersetzung bin ich allerdings nicht nur an diesem Tag ausgewichen, sondern bis zum Ende.
Trotzdem waren meine Mutter und ich während ihrer letzten Jahre gut miteinander.
Weil ich alles, was zu klären war, mit mir selbst geklärt habe. Aber das hat einige Zeit gedauert. Zuerst einmal brütete ich auf meinem Groll gegen sie und trauerte um eine Kindheit, die daran schuld war, dass ich heute zur Therapie musste.
Wut auf die Eltern
Gibt es irgendein (erwachsenes) Kind auf dieser Welt, das nicht zu irgendeinem Zeitpunkt stinkwütend auf die Eltern ist? Das schmerzlich herausfinden musste, keine allwissenden, ausgeglichenen, ununterbrochen liebevollen – kurz: keine perfekten Eltern zu haben? Sondern Eltern, denen Fehler unterlaufen sind, nicht nur bei der Erziehung? Auch kapitale Fehler?
Wie viele Menschen mag es geben, die den Kontakt zu ihren Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen abgebrochen oder stark eingeschränkt haben?
Und die nach deren Tod bereuten, so unversöhnlich gewesen zu sein?
Meine Wut- und Grollphase dauerte einige Monate. Die Besuche bei meiner Mutter hielt ich kurz und beschränkte mich auf praktische Hilfestellungen: Einkaufen, Begleitung zu Untersuchungen, Hilfe im Haushalt.
Ob sie gemerkt hat, dass ich ganz anders war? Dass meine Abschiedsumarmung nicht einem zärtlichen Bedürfnis folgte, sondern dem Pflichtgefühl?
In diesem Beitrag erfährst Du, wie Du damit umgehen kannst, wenn Deine Eltern pflegebedürftig werden.
Verzeihen können
Glücklicherweise sprang mich irgendwann dieser Satz an:
„Jeder Mensch macht es zu jedem Zeitpunkt so gut, wie er kann. Das gilt auch für Eltern.“
Mein innerer Knoten platzte umgehend. Hatte ich tatsächlich geglaubt, meine Mutter hätte absichtlich etwas getan, was nicht gut für mich war? Oder dass ich ihr gleichgültig gewesen bin?
Auf einmal konnte ich die Frau sehen, die in den 1960er Jahren ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Die beim Jugendamt ihre Eignung zum Aufziehen dieses Kindes nachweisen musste? Die süffisant „Fräulein“ genannt wurde, obwohl der 40. Geburtstag schon hinter ihr lag. Die ihre 5-jährige Tochter (nämlich mich) trösten musste, als diese nicht zum Geburtstag ihrer besten Freundin eingeladen wurde, weil sie unehelich war. Die ganztags für den Unterhalt der kleinen Familie gearbeitet hat.
Die Frau, die zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens das im Rahmen ihrer Möglichkeiten Beste für mich getan hat. Die immer sicher war, dass ich meine Aufgaben meistere. Und die meinem Mathelehrer, der ihr erklärte: „Sabine kann nicht logisch denken.“ im Elterngespräch antwortete: „Meine Tochter denkt logisch. Vielleicht können Sie den Stoff nicht gut vermitteln?“
Nach dieser Erkenntnis wurde meine Mutter wieder, was sie vorher für mich gewesen war: Der Mensch, der mir Wurzeln, Stärke und bedingungslosen Rückhalt gegeben hat. Und meine wichtigste Ratgeberin.
Als sie später dement wurde, konnte ich diese Frau immer noch sehen. Und als sie starb, konnte ich mich mit den Worten: „Danke Mutti, Du hast es gut gemacht!“ von ihr verabschieden.
Klärung. So wichtig
Es mag Situationen und Fehler geben, die nicht (mehr) geklärt werden können. Und es mag gute Gründe geben, den Eltern nicht zu verzeihen.
In den meisten Fällen jedoch ist es vor allem gut für uns, wenn wir uns jedes Mal in Frieden und mit Liebe von unseren Eltern verabschieden können. Denn je älter wir werden, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass dies der letzte Abschied gewesen ist.
Falls Du schon weißt, dass Dir so ein Abschied bevorsteht oder Du ihn gerade erleben musstest, komm gern in meine Facebook-Gruppe „Trauer darf sein!“. Dort findest Du im geschützten Rahmen Austausch mit anderen.
Und so, wie es auf meiner Landkarte der Welt sinnvoll ist, jeden einzelnen Tag meines Lebens mit dem Gefühl zu beenden, alles so gut gemacht zu haben, wie ich konnte, finde ich es auch wichtig, das den Menschen zuzustehen, die mich überhaupt erst ins Leben gebracht haben.
Dieses Erlebnis hätte ich ohne die Klärung der Beziehung zu meiner Mutter niemals gehabt: Bei meinem ersten Marathon war sie schon nicht mehr auf dieser Welt. Ich kämpfte mich eine wirklich fiese Steigung hoch, schnaufte und fragte mich, warum ich mir das antat. Mit einem Blick nach oben sagte ich: „Muttern, ich brauche deine Hilfe. Schieb mal!“
Ganz deutlich hörte ich ihre Stimme auf Plattdeutsch in meinem Kopf: „Kind, hol’t muhl un renn!“*
Mit dieser Stimme und einem breiten Lächeln im Gesicht habe ich die Steigung geschafft – und gemeinsam mit meiner Mutter den ersten Marathon gefinished.
Und bin auch heute jeden Tag dankbar dafür, dass diese wunderbare Frau mich so lange begleitet hat.
Herzliche Grüße,
Deine Sabine Scholze
*Für nicht Plattdeutsch Sprechende: „Halt die Klappe und lauf.“
Über die Autorin:
Sabine Scholze ist Mentorin für Menschen in Trauer und Expertin für einen individuellen, empathischen und wertschätzenden Umgang mit Abschied und Tod. Als Trauerbegleiterin und Trauerrednerin unterstützt sie Hinterbliebene nach dem Verlust eines geliebten Lebewesens und will mit ihrer Arbeit dazu beitragen, die Themen „Abschied, Tod & Trauer“ in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Für Austausch und Unterstützung im geschützten Rahmen bist Du herzlich in Sabines private Facebook-Gruppe „Trauer darf sein!“ eingeladen.
5 Gedanken zu „Du bist wütend auf Deine Eltern? Warum Du Deinen Groll loslassen solltest!“
Sei froh, dass du diese Einsichten noch rechtzeitig bekommen hast!
Bei mir war es leider nicht so und das bedaure ich sehr.
LG
Sabiene
Liebe Sabiene, ja, das tut weh. Vielleicht findest Du eine Möglichkeit, „nachträglich“ zu verzeihen?
Ich habe meiner Mutter auch nach ihrem Tod noch Briefe geschrieben (und tue es noch), wenn ein Thema bei mir „aufploppt“. Und ich glaube ganz fest daran, dass zumindest das Gefühl ankommt.
Mit herzlichen Grüßen, Sabine
Liebe Sabine
Ich mag Deine Texte.
Und gefühlsmäßig rückst Du damit etwas ganz Wesentliches ins Licht – den eigenen Groll und Schmerz kann Frau selbst mit professioneller Hilfe nur irgendwann selbst umarmen und verabschieden. Danke dir für diesen Beitrag.
Liebe Susanne, vielen Dank für Deinen Kommentar! Und ja: Meinen Groll (wogegen auch immer) werde ich nicht irgendwie los. Ich muss bzw. darf ihn aktiv verabschieden.
Herzlichst Sabine